Vom Zögling im Elfenbeinturm zum Nobelpreisträger

Vom Zögling im Elfenbeinturm zum Nobelpreisträger
Rück- & Einblicke in Peter Handkes Jahre auf Tanzenberg
„Wenn man mit 15 Jahren schon solche Aufsätze schreibt, wird man mit 50 Jahren den Nobelpreis verliehen bekommen.“ Diese uns am heutigen Tag anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises 2019 prophetisch anmutenden Worte stammen von Peter Handkes Deutsch- und Englischlehrer Professor Reinhard Musar, seinem Entdecker und ersten Förderer. Der junge Professor erkannte schon damals die sprachliche Raffinesse eines vor ihm sitzenden zukünftigen, genialen Großmeisters der Poesie. Handke sah in seinem Lehrer, für den er stets anerkennende und lobende Worte fand, ein Gegenüber, von dem er sich wahr und ernst genommen fühlte. Professor Musar gab dem schriftstellerischen Ausnahmetalent den Rat Prosa zu schreiben, versorgte es mit Büchern aus der Lehrerbibliothek und unterhielt sich mit ihm bei häufigen gemeinsamen Spaziergängen in der Umgebung Tanzenbergs vor allem über Literatur, Gott und die Welt.
Peter Handke trat im Schuljahr 1954/55 in die 2. Klasse des Bischöflichen Knabenseminars Marianum in Tanzenberg ein und wurde Schüler des 1. Bundesgymnasiums Klagenfurt, Abteilung Tanzenberg. Am 15. Oktober 1959 verließ er als Schüler der 7C das Haus, wie es in der Chronik des Marianums vermerkt steht, freiwillig.
Handkes Behauptungen und Beschreibungen beeinflussten maßgeblich und nachhaltig die öffentliche Beurteilung des Bildungsstandorts Tanzenberg. Eine Spurensuche in seinem literarischen Oeuvre konfrontiert den Lesenden mit durchwegs ambivalenten und kontroversiellen Wahrnehmungen Tanzenbergs im Spannungsfeld zwischen sich öffnenden und schließenden Dimensionen.
Das Schließende findet sich beispielsweise in den von Handke in Hinblick auf seine Schul- und Internatszeit in Zusammenhang gebrachten Begrifflichkeiten wie Isolation, Verbote, Vorschriften, Grenzen, Weltfremdheit etc. Dieser negative, vernichtende Grundton dominiert vor allem in den zeitlich nahe an die Schulzeit publizierten Werken, die in seiner Kindheit und Jugend erlittene Traumata thematisieren. In seinem Roman „Die Wiederholung“ schreibt er etwa: „Die fünf Jahre im Internat sind eine Erzählung nicht wert. Es genügen die Wörter Heimweh, Unterdrückung, Kälte, Gemeinschaftshaft.“
Der sensible Zögling bestach durch ein ausgeprägtes Sensorium und litt unter der Enge der klerikalen Erziehung und der Kargheit der Nachkriegsjahre. Innerhalb der Mauern des alten Schlosses sah er in den Priestern und Erziehern vorrangig Wärter und Wächter.
Handkes bevorzugter Aufenthaltsort während seiner Zeit in Tanzenberg, sein ganz spezieller locus amoenus, war ein als Bibliothek eingerichtetes Turmzimmer im mittelalterlichen Nordturm des Schlosses. In diesem Versteck, in dem er sich aus der für ihn grauen und monotonen Alltagswelt zurückziehen konnte, hat er, nach eigener Aussage auf einer alten Schreibmaschine „mit zwölf Jahren zu schreiben angefangen und seitdem nicht mehr damit aufgehört.“ Die Assoziation mit Handke als „Bewohner des Elfenbeinturms“ liegt nahe, galt ihm doch die Lektüre als Möglichkeit aus seinem empfundenen Unglück und der Unzufriedenheit auszubrechen. Eine autobiographische Reminiszenz spiegelt sich in seinem Roman „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“, in dem er festhält: „So bin ich eigentlich nie von den offiziellen Erziehern erzogen worden, sondern habe mich immer von der Literatur verändern lassen.“ Vor allem Charles Dickens, Graham Greene, William Faulkner, E.T.A. Hoffmann, Adalbert Stifter und viele mehr zählte er zu seinen bevorzugten Wegbegleitern und erzieherischen Wegweisern. Diese Flucht in geistige, literarische Welten, in das eigene Innere, so schreibt Handke in seinem Essay 1957, „war die einzige Möglichkeit, ein wenig an die Außenwelt zu gelangen.“ Der zwischenmenschliche Kontakt mit Gleichaltrigen fiel ihm hingegen schwer. Der schüchterne und schreckhafte Schüler bevorzugte die Einsamkeit. In der Regel sah man den stillen und introvertierten Einzelgänger, der beim Spazieren immer ein Buch unter dem Arm zu tragen pflegte, abseits und allein.
Tanzenberg bot Handke Chancen und öffnende Aspekte, die durchaus Positives mit sich brachten. Gemeinsam mit dem ebenfalls aus Griffen stammenden Hans Widrich, mit dem er Zeit seines Lebens freundschaftlich verbunden blieb, schrieb er für die Schülerzeitung „Die Fackel“, in der Handke Rezensionen zum literarischen Schaffen berühmter Autoren veröffentlichte. Der stets als Vorzugsschüler auffallende Handke brillierte im Lateinischen und Griechischen. Die humanistische Ausbildung und Geisteshaltung bezeichnete Handke trotz aller Unversöhnlichkeiten mit dem Marianum in rückblickender Erinnerung an seine Jahre in Tanzenberg als etwas absolut Positives, das ihn sein ganzes Leben prägend begleitete. In Handke reifte während seiner Zeit in Tanzenberg aber vor allem sein Lebensziel bzw. der Entschluss Schriftsteller zu werden und sich das Schreiben zur Lebensaufgabe zu machen.
Peter Handke und Tanzenberg – was blieb? Verhasst, verdammt, aber in gewisser Weise doch versöhnt. Aus dem Schüler wurde ein Meister. Ein Nobelpreisträger.
Christian Cvetko